Leiden an selbstverschuldeter Komplexität

Komplexität bewältigen ist ja gerade Thema. Jedenfalls in meiner filter bubble. Was können, sollen, müssen Unternehmen und Manager tun, um mit der ganzen Komplexität außen und innen fertig zu werden? Erfolg, vor allem wirtschaftlicher, also finanzieller, will ja gesichert, nein, auch noch gesteigert werden selbst in diesen modernen Zeiten steigender Komplexität. Und wahrscheinlich ist sogar die 2. Ableitung deren Funktion nicht mal Null.

Deshalb werden allerlei gute Ratschläge erteilt. Weg mit den Hierarchien, her mit der Selbstorganisation ist in der Liste immer ganz weit vorne. Oder Unternehmen als lebende Systeme ansehen und nach den Gesetzen der Kybernetik einrichten. Oder die Vielfalt umarmen, statt alles zu standardisieren.

Und da ist auch eine Menge dran. Es gibt Werkzeuge, Ansätze, Haltungen für den Umgang mit Komplexität. Die müssen dann zur gegebenen Komplexität passen.

Doch welche Komplexität ist denn gegeben? Mit welcher muss man sich einrichten?

Mein Gefühl ist, es ist inzwischen eine Echokammer entstanden, in der die Prämisse ist: Die Komplexität ist halt so, wie sie ist. Daran lässt sich nichts ändern. Deshalb funktioniert die übliche Hierarchie in Unternehmen nicht mehr; die ist unterkomplex. Also müssen neue Werkzeuge her.

Diese Echokammer möchte ich nun verlassen, da sie mir bewusst geworden ist.

Komplexität ist kein Schicksal

Ich glaube nicht daran, dass die Komplexität einfach so schicksalhaft ist, wie sie wahrgenommen wird. Wäre das so, wären Menschen und Unternehmen einfach nur ihre armen Opfer.

Doch wir reden ja nicht über die Sonne, die ohne unser Zutun vor sich hinbrodelt. Der sind wir ohne Macht ausgeliefert.

Nein, wir reden über Gesellschaft, Markt, Unternehmen. Die sind alle menschengemacht. Denen sind wir eben nicht ausgeliefert. Wir können sie ändern. Jederzeit. Wir haben stets Macht über das, was wir selbst an Werkzeugen erschaffen. Nichts anderes sind Organisationen ja: Hilfsmittel zur Erreichung von Zielen.

Wenn wir über den Umgang mit Komplexität reden, dann sollten wir also beginnen mit der Frage, was unser Beitrag dazu ist. Was tun wir jeden Tag, um die Komplexität zu verändern? Welchen Anteil haben wir an ihrem Anstieg? Was können wir tun, um sie zu senken, wenn es uns denn schwer fällt, mit ihr umzugehen?

Diese Fragen scheinen mit seltsam abwesend in der Komplexitätsdiskussion. Es wird immer nur konstatiert, die Verhältnisse hätten sich geändert, darauf müssten wir uns anpassend reagieren. Doch scheinbar keine Anstrengung, die Veränderung der Verhältnisse zu verändern.

Merkwürdig.

Eine komplexitätsreduzierende Haltung

Dabei, so glaube ich, gibt es ein ganz, ganz einfaches Mittel, um Komplexität zu reduzieren. Es ist uralt. Es ist in der Literatur seit Jahrtausenden immer wieder empfohlen worden, so wie heute der Umbau von Hierarchien zu Netzen der Selbstorganisation.

Das Mittel heißt: Ehrlichkeit.

Ehrlichkeit scheint mir ein sehr taugliches und völlig unterschätztes Mittel, um Komplexität radikal zu reduzieren.

Ein Beispiel gefällig? Unehrlichkeit führt zu Verträgen. Verträge führen zur Rechtsabteilungen. Rechtsabteilungen führen zu Lobbyismus. Lobbyismus führt zu Gesetzen. Das Ergebnis ist z.B. das deutsche Steuerrecht. Oder Ausschreibungsprozesse. Oder Kontrollmechanismen auf Baustellen. Oder Steueroasen.

Wer es kleiner und bezogen auf die Softwareentwicklung mag, der denke nur an den Stress aufgrund von Termindruck. Der ist fundamental in Unehrlichkeit begründet. Ja, so einfach sehe ich das. Hier die Kausalkette: Ein Manager fragt nach einem Aufwand. Der Entwickler sagt, 3 Wochen. Unehrlichkeit #1: Der Entwickler gibt vor, die 3 Wochen sicher zu wissen. Während der Arbeit stellt sich heraus, dass 3 Wochen nicht zu halten sind. Unehrlichkeit #2: Das meldet der Entwickler nicht proaktiv, auch wenn er es schon weiß. Oder er weiß es immer noch nicht, tut aber weiterhin so. Sobald dann für alle klar ist, dass 3 Wochen nicht zu halten sind, kommuniziert der Manager das nicht weiter nach außen. Er macht stattdessen Druck nach innen. Unehrlichkeit #3: Die Umwelt wird im Glauben gelassen, dass die 3 Wochen zu schaffen sind. Mit 3 Tagen Verzug wird dann doch noch geliefert. Aber darin steckt wieder eine Unehrlichkeit #4: Denn die Lieferung enthält nicht alle zugesicherten Merkmale, allemal fehlt es an Wandelbarkeit und sehr wahrscheinlich sind mehr Bugs darin als ohne Unehrlichkeit machbar gewesen wären. Deshalb schließt sich alsbald Unehrlichkeit #5 an: die Ursache von Mängeln wird projiziert auf den Kunden - Er hätte genauer spezifizieren müssen - oder die Umstände - Man kann ja gar nicht mangelfrei programmieren - oder den Entwickler - Der war einfach nicht sorgfältig. Die wahre Ursache wird verschwiegen: Unehrlichkeit.

Wie erscheint dieses System der Unehrlichkeit nach draußen? Komplex. Denn komplex ist, was sich nicht durchschauen, durchdenken lässt. Es gibt keine Vorhersehbarkeit, sondern es muss immer wieder ausprobiert werden. Alles befindet sich in ständiger Vorläufigkeit.

Das ist natürlich dem Menschen zuwider. Deshalb versucht er, die Komplexität von sich fern zu halten. Verträge sind dazu ein beliebtest Mittel. Doch die verschleiern die Ursache nur, die selbstgemachte.

Wo absolute Ehrlichkeit herrscht, gibt es keine Verträge. Alles ist, wie es ist. Nicht mehr, nicht weniger. Das allumfassende Beispiel ist das Universum, das Leben, die Natur. Niemand hat einen Vertrag mit der Natur. Im Verhältnis zur Natur (wenn sich ihr überhaupt etwas gegenüberstellen lässt), sind wir immer ehrlich. Zwangsläufig, existenziell.

Machen wir uns nichts mehr vor

So einfach ist das für mich: Solange nicht Ehrlichkeit thematisiert und als Grundhaltung in Organisationen (und damit im persönlichen Leben) eingeführt wird, ist alles andere nur Budenzauber und Cargo Cult, um mit Komplexität umzugehen. Im besten Fall wird dann hart am Umgang mit der Komplexität gearbeitet, aber nicht smart.

Ich behaupte natürlich nicht, Ehrlichkeit sei einfach "einzuführen". Sie steht zwar jedem Mitarbeiter jederzeit zur Verfügung, doch hat es ihre Nutzung in sich. Die will geübt sein. Aber auch dazu gibt es Hilfe: die spirituelle Literatur ist voll davon oder wer es moderner mag, der kann es hier oder hier probieren. Dazu dann noch etwas Mut und Bescheidenheit.

Es scheint mir höchste Zeit, uns nicht länger an "Komplexitätsdenke" aufzugeilen. Das kommt mir bald vor wie Scholastik 2.0 :-) Stattdessen sollten wir es mal mit etwas ganz Altem versuchen. Vielleicht sind die Zeiten doch nicht so anders wie gedacht. Vielleicht gibt es das mit der Komplexitätsgefahr schon von Anbeginn der Menschheit an, eben weil wir Menschen sind. Vielleicht gibt es deshalb auch schon lange ein grundsätzliches Werkzeug, um Komplexität so klein wie möglich zu halten: Ehrlichkeit. Wäre doch mal einen Versuch wert, oder?