Vorsicht vor dem grobmotorischen Kunden

Die meisten Kunden in Softwareprojekten sind Grobmotoriker. Kunden bzw. ihre Stellvertreter – PO, PM, Business Analyst, Projektleiter oder wie auch immer – haben ein Feingefühl, das man mit Vorschlaghammer, Abrissbirne oder Dampfwalze assoziieren kann.

Damit meine ich nicht, dass Kunden unhöflich wären. Nein, um persönliche Eigenschaften geht es nicht. Ich meine ihr Verhalten gegenüber der Sache.

Einem Grobmotoriker würdest du ja eher nicht empfehlen, Uhrmacher zu werden oder in einem Nagelstudio zu arbeiten, oder? Da kann der Grobmotoriker so liebenswert sein, wie er will, als Porzellanmaler würdest du ihn kaum anstellen.

Die Arbeit mit Pinzette, Lupe, Lötkolben, Tuschefeder oder Nadel&Faden ist etwas für Feinmotoriker.

So ist das halt im Leben. Die Menschen sind verschieden. Und so sollte jeder seine Eigenheit an passendem Ort zum Ausdruck und Einsatz bringen. Dann können die Vorhaben gelingen.

Wenn jedoch ein Feinmotoriker im Schlachthaus arbeitet oder ein Grobmotoriker endoskopisch operiert… dann passt das für mich nicht so recht zusammen.

So ist es jedoch in der Softwareentwicklung. Die Sache verlangt nach Feinmotorik, nach Feingefühl – doch der Verantwortliche ist grobmotorisch am Werk. Eine klassische Fehlbesetzung. Das kann nichts werden. Und wenn man es nicht erkennt… dann ist eines vorprogrammiert: Konflikt.

Grade der Motorik

Von einem Grobmotoriker im realen Leben hast du sicher eine Vorstellung. Aber was meine ich damit in Bezug auf die Softwareentwicklung?

Grobmotoriker und Feinmotoriker beschreiben Grade der Motorik. Sie stehen für zwei Enden eines Spektrums.

Bei diesem Spektrum geht es darum, wie fein jemand Bewegungen ausführen, steuern, abstufen kann. Für den einen gibt es Hammer oben oder unten, für den anderen Pinzette geöffnet oder geschlossen. Der eine könnte den feinen Unterschied zwischen geöffnet und geschlossen mit seinen Muskeln nur schwer herstellen, der andere könnte mit dem Hammer nicht so weit ausholen und kräftig zuschlagen.

Das ist plakativ, aber du verstehst, was ich meine, oder? Wie gesagt, das ist keine Bewertung, sondern nur eine Beschreibung.

Graduelle Unterschiede in der Motorik beziehen sich zunächst auf die Fähigkeit, Bewegungen mit einer gewissen Amplitude auszuführen. Dazu gehört allerdings auch Sensibilität in der Wahrnehmung. Der Tastsinn ist gefragt, die Propriorezeptoren sind gefragt. Wie sensibel ist also die taktile, äußere Wahrnehmung, wie sensibel ist die innere? Welche Unterschiede in Druck, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Anspannung, Gelenkstellung können wahrgenommen werden? Wie fein lassen sich Sollwerte einstellen? Wie ist die Kontrastwahrnehmung?

Der Grobmotoriker will dir nicht wehtun, doch wenn du ihm die Hand gibst, kann es passieren, dass er schmerzhaft zudrückt.

Jede Arbeit bedarf eben für die optimale Ausführung eines gewissen Grades der Motorik. Für die eine ist feinere nötig, für die andere gröbere Motorik ausreichend. Mal sind kleine Unterschiede wahrzunehmen und darauf fein zu reagieren, mal ist das Grobe ausreichend.

Softwareentwicklung braucht Feinmotorik

Leider ist es so, dass der Motorikgrad des Kunden oft nicht zur erforderlichen Motorik der Softwareentwicklung passt. Softwareentwicklung ist etwas für feinmotorische Kunden.

Feinmotorisch muss der Kunde sein, um feine Abweichungen erkennen zu können. Und wo er hin will, muss er mit Feingefühl ansteuern. Denn große Unterschiede und große Steuerungsausschläge führen in der Softwareentwicklung zu Verschwendung, Komplexität, gar Chaos.

Die Grobmotorik des Kunden in der Softwareentwicklung besteht darin, dass er große Brocken verarbeiten will. Am besten alles auf einmal. Das entspricht nicht nur einer Abrissbirne, sondern einer Sprengung. Nicht umsonst wird auch vom Big Bang Release gesprochen.

Ok, das wäre für den Kunden der Idealfall. Er weiß inzwischen jedoch, dass es so nicht geht. Zähneknirschend ist er also bereit, sich auf Teillieferungen einzulassen. Er nimmt nicht nur einmal im Jahr ein Ergebnis entgegen, sondern alle drei Monate. Doch das ist immer noch Grobmotorisch; aus der Sprengung ist nur eine Abrissbirne geworden.

Die Agilität arbeitet seit Jahren daran, den Grad der Motorik des Kunden zu erhöhen. Der Product Owner schwingt nur noch einen Vorschlaghammer, einen Fäustel oder Schlosserhammer.

Das geht schon in die richtige Richtung – doch Feinmotorik ist es noch lange nicht. Kontraste alle 4, 2, 1 Woche festzustellen, entspricht weiterhin einer groben Empfindlichkeit und sendet immer noch grobe Steuerungsimpulse.

Entwickler, die nicht jeden Tag oder spätestens jeden zweiten Tag solides Feedback des Kunden bekommen, laufen einfach zu lange in die Irre. Sie betreiben allzu schnell Verschwendung. Sie empfinden keinen wirklich Zug. Da ist in der Arbeit nur wenig Energie. Der Sinn geht ihnen flöten. „Für wen mache ich das hier eigentlich?“ steht als Frage ständig im Raum.

Metrik für die Motorik

Um den Grad der Motorik eines Kunden(vertreters) zu bestimmen, schlage ich folgende Rechnung vor:

Motorikgrad = Anzahl der Feedbacktermine / Projektlaufzeit in Tagen

Beispiele:

4 Feedbacktermine / 365 Tage Projektlaufzeit = Motorikgrad 0,01 (Frequenz: jedes Quartal)

26 / 365 = 0,07 (Frequenz: alle zwei Wochen)

180 / 365 = 0,49 (Frequenz: knapp alle zwei Tage)

350 / 365 = 0,96 (Frequenz: ungefähr täglich)

Meine Einteilung sieht dann so aus:

  • Grobmotoriker: Motorikgrad < 0,45 - solange noch ein Hammer oder Gröberes geschwungen wird
  • Feinmotoriker: 0,45..0,66 - Zange, Finger, Pinzette
  • Feinstmotoriker: >0,66 - von Endoskopie bis Mikrochirurgie

Du siehst, Feinmotorik beginnt bei mir, wenn ca. alle 2 Tage Feedbacktermine sind. (Hier übrigens eine Begründung zu dieser Frequenz von 16 Arbeitsstunden.)

Ein Feedbacktermin ist jedoch nicht jedes Gespräch zwischen Entwicklung und Kunde. Nur weil ein Kunde mal eine Frage beantwortet, ist das kein Feedback. Eine Reaktion auf „Kannst du dir das mal eben anschauen…“ ist zu wenig.

Mit Feedbacktermin meine ich einen echten Termin. Das ist eine Begegnung, von der vorher feststeht, dass sie stattfindet. Die, die sich begegnen, sind daher darauf gefasst und werden dadurch nicht unterbrochen. Ebenfalls darauf gefasst sind sie, dass sich bei diesem Termin herausstellen kann, dass die weitere Arbeit einen neuen Kurs nehmen sollte. Feedback kann positiv oder negativ ausfallen. Ein Kontrast zwischen Erwartung und Realität ist wahrscheinlich, daher kann sich die Enttäuschung in Grenzen halten.

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Wie sieht es bei dir im Projekt aus? Hast du es auch mit einem Grobmotoriker zu tun? Rechne doch mal den Motorikgrad deines Kunden aus. Du kannst ihn mir gern auch schicken. Dann sammle ich mal diese Zahlen. Ich bin gespannt, was zusammenkommt.

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Titelbildquelle: pixabay

This article was updated on 29.01.2021