Hütest du noch oder führst du schon?
Die zentralen Aufgaben von Führung aus meiner Sicht habe ich schon früher beschrieben:
- Abgrenzen
- Zusammenführen (Kohäsion)
- Ausrichten (Kohärenz)
Führung stellt eine Gemeinschaft her, um einen Zweck zu verfolgen, wo es allein schwer bis unmöglich wäre.
Wie viel Führung dafür leisten muss, hängt davon ab, wie schwer es ist, die Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen zu schmieden und wie groß der Unterschied zwischen dem IST-Zustand und dem hinter dem Zweck stehenden SOLL-Zustand ist.
Ob ein großer Unterschied zwischen IST und SOLL die Führung leichter oder schwerer macht, weiß ich gar nicht so genau. Vielleicht liegt die größte Schwierigkeit in der Mitte? Ein kleiner Unterschied kann leicht überwunden werden, dazu braucht es nicht viel Führung. Ein großer Unterschied braucht zwar mehr Aufwand, doch er spornt vielleicht besonders an. Gar das scheinbar Unmögliche gemeinschaftlich erreichen zu wollen, kann unheimlich motivierend sein. Nach den Sternen greifen! Ein Moonshot! Das spornt viele an.
In jedem Fall braucht Führung ein Gespür dafür, wie der Zweck auf Menschen wirkt. Über ihn wird Sinn gestiftet, der Menschen auch Durststrecken überwinden lässt. (Hinweis für Sparfüchse: Wer knapp bei Kasse ist, kann versuchen, mit mehr Sinn Menschen für seine Gemeinschaft zu begeistern.)
Wirkt der Zweck schon ausrichtend? Ist die Gemeinschaft genügend in Bewegung im Sinne des Zwecks? Kommt sie den mit dem Zweck verbundenen Zielen näher? Das muss Führung beobachten und beurteilen und ggf. ihre Bemühungen erhöhen.
Andererseits hängt der Aufwand für das Zusammenschmieden, so meine ich, davon ab, wie ähnlich sich die Menschen empfinden. Es steckt viel Wahrheit in den Sprichwörtern:
Gleich und Gleich gesellt sich gern.
Birds of a feather flock together.
Menschen finden aufgrund von Gemeinsamkeiten leicht(er) zusammen. Das können Interessen sein, Kompetenzen, Erfahrungen, Geschlecht, Herkunft, Hautfarbe oder Religion. Daraus ergibt sich einfach schon eine natürliche Grenze: Dazu gehört, wer das Gemeinsame teilt; draußen ist, wer es nicht teilt.
Sich aufgrund von Verschiedenheit zusammenzufinden - z.B. für die Paarung Frau+Mann oder für den Schutz Stark+Schwach -, hat auch seinen Reiz, doch je mehr Gemeinsamkeit vorhanden ist, desto leichter fällt es.
Es gibt natürlich Zwecke, die gerade Menschen mit vielen Gemeinsamkeiten interessieren. Dort besteht dann womöglich schon eine (Leidens)Gemeinschaft mit Grenze und Kohäsion, der aber vielleicht noch die Kohärenz fehlt, um einen SOLL-Zustand zu erreichen. Aus sich heraus sucht sie dann eine Führung, um sich zweckgerichtet in Bewegung zu setzen.
Bei Unternehmen ist es jedoch anders herum. Der Zweck steckt nicht in einer schon existierenden Gemeinschaft, sondern im Kopf des Gründers. Der schwingt sich daher auf zur Führungsperson, die eine Gemeinschaft hinter (oder unter?) sich versammeln will. Führung ist in diesem Fall doppelt schwierig:
- Erstens ist noch keine Gemeinschaft sichtbar, so dass Aufwand für Abgrenzung und Kohäsion geleistet werden müssen.
- Zweitens ist es sehr wahrscheinlich, dass der Gründungszweck gar nicht mit Menschen einer natürlichen Gemeinschaft erreicht werden kann. Vielmehr bedarf es vieler sehr unterschiedlicher Menschen, deren komplementäre Kompetenzen erst die Zweckerfüllung überhaupt möglich machen. Stichwort: Arbeitsteilung.
Unternehmensführung ist deshalb eine Herausforderung ersten Grades! Klare Grenzen, starke zusammenhaltende Kraft, glasklare Ausrichtung auf zweckdienliche Ziele: das ist gefragt, um Menschen möglichst flüssig in Bewegung zu bringen und zu halten.
Unternehmensführung muss sich deshalb auch sehr fokussieren. Sie macht sich nicht nebenbei. Ihre Arbeit am Rahmen der Gemeinschaft ist grundsätzlich anders als die Arbeit in solch einem Rahmen. Führung und Operation sind grundverschieden. Man ist Führungskraft oder Fachkraft.
Führung beeinflusst mit Stories, Normen, Strategien. Sie weist keine Handlungen an - allerdings beurteilt sie durch die Operation entstehende Effekte.
Unternehmensführung ist für mich also die hohe Kunst der Führung. Sie schmiedet aus Unterschiedlichem ein zweckvolles, hoffentlich erfolgreiches Ganzes.
Führung setzt sich in heutigen Unternehmen „unterhalb“ der Unternehmensführung jedoch weiter fort. Unternehmensführung delegiert an Bereichs- und Abteilungsführungen. Das Organigramm eines Unternehmens dokumentiert diese Führungshierarchie mit Führungskräften auf mehr oder weniger Ebenen.
Interessanterweise erfolgt diese Delegation in Richtung immer größerer Gleichheit unter den Geführten. Die in einem Bereich versammelten Mitglieder der Gemeinschaft sind sich untereinander ähnlicher als über Bereichsgrenzen hinweg. Und die in einer Abteilung weisen noch mehr Gemeinsamkeiten auf.
Führung wird mithin immer einfacher, so könnte man sagen, je weiter nach unten die Führungshierarchie hinabsteigt. Denn Führung von Gruppen mit natürlicherweise deutlicher Grenze und hoher Kohäsion ist einfacher als die Führung von Heterogenität.
Deshalb würde ich sogar sagen, dass Führung alsbald zum Hüten verkommt. Statt vom Abteilungsleiter als Führungskraft sollte man eher von einer Hütekraft sprechen.
Je weiter unten in der Hierarchie Führung stattfinden soll, desto weniger kann sie ja auch bewegen. Je gleicher die Menschen, desto weniger Wertschöpfung ist durch sie möglich. Was können die Mitglieder der Supportabteilung oder der Marketingabteilung allein bewirken, um das Unternehmen voran zu bringen?
Führung ist damit eines ihrer Mittel beraubt, um die Gefolgschaft beisammen zu halten.
Dazu kommt, dass die Gemeinschaft der Gleichen tiefer im Organigramm aus sich heraus keine Führung wünscht. Sie teilen zwar Kompetenzen und vielleicht auch Grundhaltungen, wenn sie z.B. in einer Abteilung versammelt sind - doch daraus leitet sich kein Gradient zwischen einem IST und einem SOLL ab. Eine Abteilungsgemeinschaft ist letztlich ein zusammengewürfelter Haufen mit vielen Gemeinsamkeiten, dem das Entscheidende fehlt: ein Zweck.
Also plaudert man gern in der Kaffeeküche miteinander - nur gibt es darüber hinaus und auf das Unternehmen gerichtet keine Bewegung. Man kann als Abteilungsmitglieder allein ja nichts ausrichten.
Abteilungsleitung ist deshalb eine undankbare Aufgabe. Wie der Hüter einer Schafherde ist die Hüte-, äh, Führungskraft vor allem mit der Grenzziehung beschäftigt. Fortbewegung ist nur langsam möglich.
Dass es bei solcher Anatomie von Unternehmen zu Problemen kommt, finde ich nicht verwunderlich. Die Unternehmensanatomie ist nicht auf Wertschöpfung durch Ungleiche ausgerichtet, sondern auf die Einhegung von Gleichen.
Das, was Unternehmensführung an der Spitze tut, nämlich die (Zusammen)Führung von Ungleichen zu einem Ganzen, setzt sich nach unten nicht fort. Unternehmen haben kein stratified design.
In ihrer Anatomie versuchen Unternehmen nicht, das Ganze, für das sie stehen, den Zweck, in sukzessive wachsendem Detaillierungsgrad widerzuspiegeln. Sie organisieren sich nicht in zunächst groben und dann immer feineren Prozessen, in denen Komplementarität von Ungleichen wertschöpfend koordiniert wird.
Die Anatomie von Unternehmen ist beim Abstieg in der Hierarchie nicht konsequent an Prozessen, Projekten, Produkten ausgerichtet, die alle für sich etwas bringen. Funktionsübergreifende, auf Wertschöpfung optimierte Organisation ist nicht das, was Unternehmensführung heute als primären Rahmen ansieht.
Und so ist Führung denn heute vor allem eines: Hüten. Kein Wunder, wenn Hüter darauf bedacht sind, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen, statt das Unternehmen voran. Kein Wunder, wenn der eine Hüter darauf bedacht ist, dass der andere ihm mit dessen Herde nicht in die Quere kommt. Kein Wunder, wenn Hüter dafür bezahlt werden, dass keines ihrer Schafe aus der Reihe tanzt. Kein Wunder, wenn Hüter ihre Schäfchen am liebsten vor sich sehen in einem Großraumbüro. Managment by walking around ist vom Verhalten eines Hütehundes dann nicht zu unterscheiden.
Eine Schafherde hat natürlich auch ihre Vorteile. Keine Frage. Manchen Kopf muss man sich da nicht machen. Nur kommt man mit solch atrophiertem Führen nicht gut voran. Geschwindigkeit geht anders. Innovation kommt auch nicht von Hüten. Disruption schon gar nicht.
Man könnte meinen, Unternehmen würden die Minimierung von Führungsaufwand höher bewerten als die Erreichung ihres eigentlichen Zweckes.
Also: Es ist Zeit, von der Hüter-Orientierung umzustellen auf echte Führung. Das Verschiedene muss den Ton angeben, nicht das Gleiche. Das ist anstrengender. Doch das ist auch lohnender in vielerlei Hinsicht.
PS: Dass auch Gemeinschaften der Gleichen in einem Unternehmen nützlich sein können, will ich nicht abstreiten. Sie sind orthogonal zu den wertschöpfenden Gemeinschaften der Ungleichen. Das würde ich allerdings nicht als Matrix verstehen wollen. Das Primat haben für mich die Prozesse, Projekte, Produkte, die das Unternehmen auf seine Ziele hin fortschreiten lassen.
Wenn sich darüber hinaus „communities of interest“ bilden, z.B. alle Verkäufer Kegeln gehen oder eine Fortbildung besuchen, warum nicht? Solche „Schnitte“ durch die Grundgemeinschaft aller Unternehmenszugehörigen lassen sich beliebig legen. Nur sind die eben nicht primär, sondern sekundär oder tertiär. Primär ist, was als Einheit einen Unterschied macht, der dem Unternehmen etwas bringt.
Echte Führungskräfte, die per definitionem disziplinarische Hoheit haben, gibt es für mich deshalb nur in Bezug auf Wertschöpfende Gemeinschaften. Andere Gemeinschaften mögen offizielle Vertreter haben und Lobbying bei Führungskräften betreiben, doch sie sind letztlich „zahnlos“.
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