Hierarchien als Kohärenzmaschinen
Wozu Hierarchien in Unternehmen? Die Hierarchie ist dieser Tage ja nicht gut gelitten. Sie soll weg, lese ich immer wieder. Organisationen würden dann irgendwie besser.
Einmal habe ich ja schon eine Lanze für die Hierarchie gebrochen. Da ging es mir um ihre Nützlichkeit, Verständlichkeit herzustellen. Sie ist einfach ein Werkzeug, um bestimmte Probleme zu lösen. Nur welche?
Zum Beispiel ein kognitives Problem. Hierarchien sind eine Form der Ordnung. Hierarchien entstehen, wenn wir abstrahieren.
Mir ist aber noch ein anderes Problem eingefallen. Vielleicht ist das sogar das ursprüngliche Problem, für das Hierarchien als Lösung erfunden wurden, zumindest in Organisationen: die Herstellung von Kohärenz.
Hierarchien als Kraftpfeile
Eine organisatorische Hierarchie scheint mir den Zweck zu haben, Kräfte zu bündeln und auszurichten.
Ist das nicht offensichtlich? Die Pyramide einer Hierarchie sieht doch aus wie eine Pfeilspitze, oder?
Eine power hierarchy ist ein Brennglas. Das Potenzial der in ihr organisierten Menschen wird auf einen Punkt ausgerichtet. Kohärenz entsteht.
Ohne Hierarchie weisen die Kraftpfeile der Einzelnen in ganz unterschiedliche Richtungen, je nach persönlichen Bedürfnissen:
Durch eine Hierarchie hingegen werden die Kraftpfeile auf ein Ziel hin ausgerichtet.
Das funktioniert natürlich nur, wenn sich eine Hierarchie auf genau ein Ziel wirklich konzentriert.
Deshalb wird auf Bildern der Anführer als Spitze der Hierarchie auch immer wieder an der Spitze der Angeführten, d.h. in vorderster Front gezeigt. Ganz handfest wird damit klar, wo das Ziel liegt: dort, wohin der Anführer strebt.
Kraft durch Sog
Ein echter Anführer führt also immer durch Beispiel, er bringt sich ganz ein, setzt als erster sein Leben aufs Spiel für das Ziel. Es entsteht ein Sog, durch den die Kräfte anderer ebenfalls auf das Ziel ausgerichtet werden. Menschen streben dem Anführer nach, sie werden seine Gefolgschaft.
Im einfachsten Fall ist die Hierarchie, die ein Anführer durch sein Beispiel an kraftvoller Ausrichtung auf ein Ziel hin erzeugt, flach. Sie besteht aus dem Anführer an der Spitze und darunter/dahinter allen Gefolgsleuten auf gleicher Ebene.
Das mag je nach Ziel, Persönlichkeit des Anführers und Bedürfnissen der Gefolgsleute ausreichen. Am Ende ist die Reichweite des Sogs, den ein Anführer herstellen kann, aber wohl immer begrenzt. Wenn dann mehr Menschen motiviert werden sollen, ihre Kräfte in Richtung auf das Anführerziel auszurichten, braucht es „Repeater“, d.h. weitere Anführer oder Unterführer, die wiederum Sog herstellen. Die Hierarchie wächst in die Tiefe, um an der Basis an Breite und insgesamt an Kraft zu gewinnen durch mehr gebündelte Einzelkräfte.
Die Tiefe der Hierarchie ist mithin eine Funktion der Reichweite des Einflusses des Anführers. Niemand hat je eine tiefe Hierarchie gewünscht. Wenn gesunde tiefe Hierarchien entstehen, dann deshalb, weil auf andere Weise der Anführer nicht genügend Sog erzeugen kann für eine zielnotwendige Gefolgschaftsgröße.
Falls sich nun jedoch die Möglichkeiten verändern, Sog zu erzeugen, d.h. andere im Sinne des Anführerziels zu beeinflussen, dann sollte sich das wohl in der Tiefe der Hierarchie widerspiegeln.
Dass sie jedoch insgesamt verschwindet, ist nicht zu erwarten. Denn wodurch sollte sonst ein Ziel Sog erzeugen und Kräfte auf sich ausrichten? Das ist die Aufgabe eines Anführers. Ziele brauchen „zwei Beine“, einen Stellvertreter, Owner, Fackelträger, Propheten, Motivator, eben einen Anführer. „Führungskraft“ klingt dafür eigentlich schon schwach und bürokratisch.
Dysfunktionale Hierarchien
Hierarchie ist ein Werkzeug. Das kann man angemessen und korrekt einsetzen oder eben nicht. Nicht jede Hierarchie ist natürlich eine gute. Aber auch nicht alle Hierarchien sind Mist.
Ich kann mir vorstellen, dass Hierarchien zu schwach sind. Dann reicht der Sog des Anführerers und der Unterführer nicht, um die Gefolgschaft wirklich auf das Ziel auszurichten. Sie existieren vielleicht formal, in Wirklichkeit jedoch sind die Kräfte darin nicht auf ein Ziel ausgerichtet.
Oder Hierarchien sind zu starr. Dann können sie sich nicht mehr anpassen an Veränderungen in Zielrichtung oder Einflussreichweite der Führer oder notwendiger Gefolgsschaftsgröße.
Oder Hierarchien entarten. Dann existieren sie formal, aber sie streben nicht (mehr) dem äußeren Ziel zu, für das sie ursprünglich konstruiert wurden. Sie beschäftigen sich vielleicht vor allem mit sich selbst.
Wie gesagt, nur weil das passieren kann, bedeutet es für mich nicht, dass Hierarchien in Organisationen nicht zum Einsatz kommen sollten.
Es lässt sich ja – wie gesagt – ohnehin nicht vermeiden, dass es überhaupt Hierarchien gibt, wenn Ziele verfolgt werden sollen. Jeder, der sich ein Ziel zu eigen macht und andere dahin führen will, ist automatisch Anführer an der Spitze einer Gefolgschaft. Das Verhältnis zwischen den Beteiligten ist damit sofort asymmetrisch, hierarchisch.
Konfligierende Hierarchien
Neben intra-hierarchischen Problemen gibt es allerdings noch inter-hierarchische. Die entstehen im Grunde sofort, wenn es in einer Organisation mehrere Hierarchien gibt.
Da jede Hierarchie für ein Ziel steht und ihre Mitglieder in eine Richtung zieht, stehen mehrere Hierarchien immer in Zielkonflikt.
Wohin die Organisation dann strebt, hängt von der Größe der Kräfte ab, die die jeweiligen Hierarchien ab. Für mich entsteht da sozusagen ein Kräfteparallelogramm.
Jede Hierarchie ist also im Grunde wieder ein Individuum mit eigenen Bedürfnissen und eigenem Streben.
Es stellt sich daher die Frage, wie erreicht werden kann, dass die Kraftpfeile der Hierarchie-Individuen nicht zu sehr in Konflikt stehen.
Für mich ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer Hierarchie für Hierarchien :-)
Oh, oh, das sieht nicht gut aus, oder? Jetzt entsteht wieder größere Tiefe. Kommen wir denn gar nicht weg von Hierarchien?
Hierarchien als Kohärenzmaschinen
Nochmal: Hierarchien sind kein Selbstzweck! Die Hierarchie der Hierarchien habe ich gerade nur „heraufbeschworen“, weil es mehrere Hierarchien in der Organisation gab und deren Kraftpfeile in sehr unterschiedliche Richtungen zeigten. So wie zunächst einmal die Interessen von Individuen in sehr unterschiedliche Richtungen weisen und durch eine Organisation an sich ausgerichtet werden.
Die Tiefe einer Hierarchie und die Zahl der Meta-Hierarchien, d.h. Hierarchien, die Hierarchien auf ein übergeordnetes Ziel ausrichten, ist lediglich von der Sogkraft der jeweiligen Anführer sowie der Ausrichtung ihrer Kraftpfeile abhängig.
Wenn sich alle einig sind, dann braucht es gar keine Hierarchie. Dann stehen ja alle schon ausgerichtet auf dasselbe Ziel. Was bleibt ist höchstens Koordination, damit man sich nicht auf die Füße tritt auf dem Weg zum Ziel.
Koordinieren ist also nicht Anführen! Koordination findet lediglich im Rahmen dessen statt, was Führung als Ziel vorgibt. Führung ist nach außen gerichtet, Koordination nach innen.
Führung stellt „lediglich“ Kohärenz her. Das bedeutet: Wo Kohärenz fehlt, da muss Führung, da muss Hierarchie her. Umgekehrt: Wo Kohärenz vorhanden ist, da braucht es keine (weitere) Hierarchie.
Wer Hierarchien in Organisationen reduzieren oder gar abschaffen will, der muss sich deshalb fragen: Wo kommt die notwendige Kohärenz her?
Wenn die auf andere Weise als durch Hierarchie hergestellt werden kann… dann ist alles gut.
Kohärenz ohne Hierarchie
Das übliche Bild von Führung stellt einen Anführer einer Gefolgschaft gegenüber. Der Anführer ist Stellvertreter des Ziels.
Eigentlich geht es bei Führung, bei Hierarchie also um das Ziel. Das Ziel steht über einer Gruppe als Leitstern.
Fragt sich nur, wie es die Einzelkräfte auf sich ausrichtet, so dass es eine echte Gefolgschaft bekommt?
Anführer sind die Werkzeuge von Zielen, um eine Gefolgschaft zu versammeln und darauf auszurichten.
Aber es kann auch anders gehen. Ziele müssen sich nicht zwangsläufig in einer Person manifestieren. Sie können auch in einem Diskurs, d.h. den Interaktionen zwischen Individuen präsent sein und sich entwickeln.
Ohne den einen Anführer kann eine Gruppe sich ebenfalls zu einer Gefolgschaft hinter einem Ziel formieren. Dazu braucht es nur einen geeigneten Austausch zwischen ihren Mitgliedern. Dann führt sich die Gruppe selbst, sie wird zu einem Team.
Das funktioniert, hat allerdings seinen Preis. Der besteht in einem Verlust an Geschwindigkeit. Diskurs braucht Zeit.
Abhängig von Ziel, Dringlichkeit und Bedürfnislage der Gruppenmitglieder ist daher wohl zu entscheiden, ob Selbstführung oder hierarchische Führung zweckdienlicher ist.
Die Führungsfragen
Selbstführung maximiert die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Gruppenmitglieder, solange ein Kräftegleichgewicht herrscht, also keine verdeckten Hierarchien existieren. Außerdem bietet sie durch die Symmetrie der Beziehungen zunächst wohl einmal die größte Chance für Informationsaustausch.
Sollte jedoch aus Effizienzgründen eine Führung qua Hierarchie notwendig erscheinen, ist zu fragen: Wie steht es mit den Bedürfnissen der Gefolgschaft?
Anführer werden wohl nur langfristig Sog entwickeln können, wenn sie ihrer Gefolgschaft spürbar vermitteln, dass sie deren Bedürfnisse im Blick haben. Nur dann nämlich sind Menschen bereit, sich auf andere, als die eigenen Ziele auszurichten.
Respekt, Vertrauen, Empathie, gar Fürsorge gegenüber der Gefolgschaft stehen daher für mich als Tugenden im Zentrum von Führung.
Wenn solche Zuwendung gegeben ist, bleibt allerdings noch eine Frage zu stellen: Wie steht es mit dem Informationsfluss?
Ist der Informationsfluss vom Anführer in die Gefolgschaft gut genug (top-down), um Sog zu erzeugen? Ist der Informationsfluss von der Gefolgschaft zum Anführer gut genug (bottom-up), um mitzuteilen, wie es um Bedürfnislage und Kohärenz bestellt ist?
Auch wenn in hierarchischer Führung eine fundamentale Asymmetrie herrscht, bedeutet das ja nicht, dass die Kommunikation unidirektional ist. Ein tugendhafter Führer ist immer daran interessiert, was „an der Basis“ passiert. Er bzw. das Ziel braucht ja die Menschen in der Gefolgschaft. Und die hat er nur so lange hinter sich, wie die sich berücksichtigt, gewollt, verstanden, versorgt fühlen.
Die anhaltende Krise der Führung in Unternehmen scheint mir denn auch in diesen zwei Aspekten begründet:
- Abwesenheit von Tugendhaftigkeit
- Asymmetrischer Informationsfluss
Die Gefolgschaft fühlt sich immer weniger berücksichtigt; für Anwesenheit bezahlt zu werden, reicht nicht mehr. Und Information fließt mehr von oben nach unten, denn von unten nach oben; dadurch entsteht eine ungünstige Entkopplung des Anführers.
Ob darauf jedoch die beste Antwort die Abschaffung aller Hierarchie ist… das wage ich zu bezweifeln. Im Sinne eines sowohl-als-auch scheint mir eher der realistischere Weg, Hierarchie angemessen und moderat zu benutzen, um eine Balance zwischen Bedürfnisberücksichtigung, Informationsfluss und Effizienz herzustellen.